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Ausgabe Frühjahr 2020

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DEMOGRAFIE

Makroökonomische Effekte des demografischen Wandels in der Schweiz

BEITRAG VON André Wolf

Alterungstendenzen sind in den Gesellschaften nahezu aller entwickelter Volkswirtschaften zu beobachten. Die ökonomische Forschung hat gezeigt, dass hiervon beträchtliche Rückwirkungen auf die volkswirtschaftlichen Wachstumspotenziale ausgehen können. Dies betrifft nicht nur die Erwerbspotenziale, sondern auch Faktoren wie Kapitalakkumulation, Arbeitsproduktivität und nicht zuletzt die Stabilität der öffentlichen Sozialversicherungssysteme.

Um das Zusammenwirken dieser spezifischen Einflüsse sichtbar zu machen, bedarf es Simulationen auf Basis ökonomischer Wachstumsmodelle. Forscher des HWWI haben in einer Studie im Auftrag des Schweizer Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) solche Simulationen am Beispiel der Schweiz durchgeführt. Die demografische Entwicklung in der Schweiz ist mit einer Kombination aus stabiler Netto-Zuwanderung und abnehmender Fertilitätsraten ökonomisch ein interessanter Fall. Die langfristigen makroökonomischen Implikationen dieser Entwicklung wurden auf Basis eines dynamischen Mehrgenerationenmodells (OLG-Model) für einen Zeitraum bis 2060 projiziert. Als Datengrundlage dienten zum einen amtliche gesamtwirtschaftliche Kennzahlen, zum anderen verschiedene Langfristszenarien zur Bevölkerungs- und Erwerbsentwicklung nach Altersgruppen des Schweizer Bundesamtes für Statistik (BFS). Die Anwendung des Mehrgenerationenmodells ermöglichte es dabei, erwartete Verschiebungen zwischen den Altersgruppen passgenau in der Modellierung abzubilden.

Neben einer Gruppe an Hauptszenarien, basierend auf dem Referenzszenario des BFS sowie zwei Szenarien mit einer günstigeren (Szenario „Hoch“) und weniger günstigen (Szenario „Tief“) Bevölkerungsentwicklung, wurden verschiedene Sonderszenarien mit veränderten Annahmen im Hinblick auf Zuwanderung und Erwerbstätigkeit simuliert. Um die spezifischen Folgen von Verschiebungen in der Altersstruktur von den Folgen einer reinen Veränderung der Bevölkerungszahl zu trennen, wurde zudem ein zusätzliches Szenario als synthetischer hypothetischer Benchmark konstruiert. Im Gegensatz zum Referenzszenario blieb die Altersstruktur in diesem Szenario unverändert, doch es wurde ein identisches Bevölkerungswachstum wie im Referenzszenario unterstellt.  

Die Simulationsergebnisse zeigen, dass bei unveränderter Altersstruktur die Schweizer Wirtschaftsleistung pro Kopf deutlich stärker wachsen würde als in den Hauptszenarien mit demografischem Wandel (siehe Tabelle). Verantwortlich dafür sind im Wesentlichen zwei Effekte. Zum einen sinkt mit der Alterung die Erwerbsquote. Zwar erwarten die BFS-Hauptszenarien einen Anstieg der Erwerbstätigkeit im höheren Alterssegment, dennoch wird das Niveau der Erwerbsquoten in diesem Bereich auch zukünftig niedriger ausfallen als bei jüngeren Altersgruppen. Zum anderen beeinflusst der Effekt der Alterung auch die Arbeitsproduktivität. Gemäß der geschätzten altersabhängigen Produktivitätsverteilung hat der zunehmende Anteil älterer Personen auch einen (leicht) negativen Nettoeffekt auf die Arbeitseffizienz. Mögliche Veränderungen im Erwerbsverhalten infolge steigender Löhne, welche im Modell grundsätzlich berücksichtigt sind, spielen dagegen nur eine geringe Rolle. Die Simulationsergebnisse erlauben auch Aussagen über die Zusammensetzung der Wirtschaftsleistung. Auf der Verwendungsseite des Bruttoinlandsprodukts wird erwartet, dass der Anteil des öffentlichen Konsums in Folge der wachsenden Ausgaben für die Staatshaushalte mittelfristig ansteigen wird. Die Anteile von privatem Konsum und Investitionen werden hingegen leicht zurückgehen.

Die Mehrgenerationenstruktur des Modells ermöglicht zudem Prognosen zur zukünftigen Verteilung des Einkommens nach Altersklassen. Demnach können zwar alle Altersgruppen in den Hauptszenarien einen langfristigen realen Pro-Kopf-Zuwachs erzielen, denn das verfügbare Einkommen steigt. Ein spezifischer Verteilungseffekt zeigt sich jedoch darin, dass dieser Zuwachs bei den Angehörigen mittlerer Altersklassen deutlich geringer ausfallen wird. Ursächlich hierfür ist der zwischen den Generationen ungleich verteilte strukturbedingte Anstieg in den öffentlichen Ausgaben. Im Modell sind es primär die mittleren Altersklassen, die angesichts ihrer höheren Erwerbsquoten die Hauptlast in Form höherer Abgaben und Steuern zu tragen haben. Diese Ergebnisse haben sich im Rahmen von Sensitivitätsanalysen als grundsätzlich robust gegenüber Parameteränderungen erwiesen.

Die insgesamt fünf Sonderszenarien bestehen aus Modifikationen der in die Simulationen einfließenden Bevölkerungs- und Erwerbsszenarien. Diese simulieren eine verstärkte Zuwanderung, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine höhere Erwerbsbeteiligung älterer Personen sowie Anpassungen in der Erwerbstätigkeit infolge von zukünftigen Anpassungen des gesetzlichen Renteneintrittsalters («Rente 2030» und «Rente 2040»). Das Szenario mit verstärkter Zuwanderung würde zunächst im Vergleich zum Referenzszenario zu einer positiveren wirtschaftlichen Entwicklung führen – in Pro-Kopf-Betrachtung allerdings nur in sehr geringem Masse (siehe Tabelle). Die Auswirkungen des Alterungsprozesses der einheimischen Bevölkerung können demnach nicht allein durch verstärkte Zuwanderung kompensiert werden. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für höhere altersspezifische Erwerbsquoten. Die Szenarien mit erhöhter Erwerbstätigkeit prognostizieren jeweils eine günstigere Entwicklung des BIP pro Kopf, und zwar sowohl im Vergleich zu den Hauptszenarien als auch zum Sonderszenario mit erhöhter Zuwanderung. Dies gilt vor allem für das Szenario, das von einer erhöhten Erwerbstätigkeit älterer Personen ausgeht. Doch auch hier gilt: Die Zunahmen der Erwerbsneigung können die negativen Effekte der Alterung nicht vollständig ausgleichen. Was konkrete Schlussfolgerungen für die politische Ebene anbelangt, ist angesichts des Abstraktionsniveaus der makroökonomischen Modellierung Zurückhaltung geboten. Grundsätzlich kann aber die Erwartung abgeleitet werden, dass im Zuge des demografischen Wandels auch zukünftig Fragen der intergenerationellen Verteilung aktuell bleiben werden.

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